Es weihnachtet wieder. Das ganze Jahr freue ich mich darauf. Nicht nur wegen der gebrannten Mandeln, dem Glühwein oder den verheißungsvollen Lichtern, die nachtaktiven Sternsuchern den Weg funkeln, wenn sie durch die kalten Straßen laufen, kleine Tauwölkchen vor sich her pustend.
Es sind die Weihnachtsspots, auf die ich so gespannt bin, wie ad-affine Amerikaner vermutlich auf die Super-Bowl-Pausen. Sie zeigen, dass Werbung nicht banal, beliebig sein muss oder gar vulgär. Im Gegenteil. Sie hat ihre Sternstunden, wenn sie klug, kritisch und gefühlvoll Wahrheiten ausspricht, die uns in unserem tiefsten Inneren bewegen.
Unvergessen der legendäre EDEKA-Werbespot aus dem Jahr 2015 #Heimkommen, in dem ein betagter älterer Herr seine eigene Todesanzeige verschickt, um seine Familie am Heiligen Abend um den Tisch zu versammeln.
Oder den Spot des letzten Jahres. Mit „Lasst uns froh und bunter sein“ verwob EDEKA das Corona-Drama sensibel mit einer Erzählung über Integration, Empathie und Diversity: eine islamische Familie kocht Gänsebraten, Rotkohl und Klöße für den schrulligen, einsamen Nachbarn in der Tradition des Ebenezer Scrooge, der Weihnachten in Quarantäne verbringen muss.
In diesem Jahr steht ein Spot von Penny in meinem Ranking ganz oben. „Der Wunsch“ nicht zu wissen, wo ihr Sohn sich die Nächte um die Ohren schlägt, ihn sturzbetrunken aufzulesen, mit gebrochenem Herzen raubt ihr den Schlaf. Weil ein auf skurille Weise coronabehütetes Teenagerdasein ohne Abstürze, nicht das wahre Leben ist.
Weil es Geschichten sind, die uns etwas über uns erzählen. Über das Gute und das Böse, über Abgründe und Höhenflüge, über Verzweiflung und Happy End. Und weil sie etwas in uns ansprechen, das uns tiefer berührt als Argumente, Statistiken und Analysen. Wir alle haben eine tiefe Sehnsucht nach Geschichten, nach Helden, Vorbildern und Hoffnungsträgern. Danach, dass jemand ausspricht, was uns bewegt und uns sagt, was richtig ist und woran wir glauben sollen und dürfen.
Diese zutiefst menschliche, empathische Seite zeigt sich sogar physiologisch. So hat Neuroökonom Paul Zak im Blut von Menschen, denen er ein emotionales Video gezeigt hat, die Ausschüttung von Hormonen nachgewiesen. Cortisol, das Stresshormon und Oxytocin, das „Kuschelhormon“. Oxytocin wird für die Einleitung von Geburten verwendet, für die Milchejektion verantwortlich gemacht und in Zusammenhang mit der Mutter-Kind-Bindung gesehen. Es aktiviert das Belohnungssystem, reduziert Stress, sorgt für ein positives Empfinden und dafür, dass wir Vertrauen aufbauen. Und Empathie.
Unsere Biochemie scheint direkt mit den drei Elementen zu korrespondieren, die eine gute Geschichte von Sophokles über die Gebrüder Grimm über Shakespeare bis zu J.R.R. Tolkien oder Joanne K. Rowling ausmachen: Eine harmonische Ausgangssituation, die plötzlich von einer Herausforderung überschattet und dann virtuos aufgelöst wird.
Genau diesem Spannungsbogen folgen auch die Narrative aus den anfänglich beschriebenen Weihnachtsspots. Die eben deshalb großartige Beispiele für strategisches Storytelling sind.
Storytelling als Kulturtechnik, die Komplexes vereinfacht, Widersprüche erklärt, Werte vermittelt, Verstehen fördert, Aufmerksamkeit fesselt und Identität stiftet, ist längst festes Instrumentarium im Marketing.
Gutem Storytelling wird nachgesagt, Verkaufszahlen, Erinnerungsleistungen und den empfundenen Wert von Produkten und Dienstleistungen signifikant zu verbessern.
Darüber hinaus involvieren sie uns emotional.
Am besten wirken Geschichten, sagt Autor Thomas Pyczak, wenn sie von einem höheren Ziel erzählen, einen Sinn stiften. Jenem PURPOSE, wie es in der Marketingterminologie heißt, nach dem jedes Unternehmen suchen sollte. Dieses Warum, dieser Sinn, der unser Handeln leitet, der uns und unsere Kolleginnen und Kollegen täglich neu motiviert und den sogar Investoren einfordern, weil er den Wert einer Marke steigert.
Der Sinn, von dem die Weihnachtsspots erzählen, ist wahrscheinlich weniger der Purpose der absendenden Unternehmen, als der von Weihnachten selbst, den sie sich durch die Spots aneignen: sich Zeit nehmen, sich in andere Menschen hineinversetzen und sich auf das besinnen, was wirklich wichtig ist: Miteinander, Empathie, Liebe, Leben. Und weil sie diese Sehnsucht in uns allen ansprechen, gelingt es ihnen womöglich sogar, was Werbung nur selten schafft: in unser kollektives Gedächtnis einzugehen.
In diesem Sinne: genießen Sie die Weihnachtszeit und saugen Sie die wundervollen Geschichten auf, die Ihnen begegnen.